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Unter Strom

Südtirol produziert doppelt so viel Strom, wie es verbraucht. Wasser ist der erste Energielieferant. Dafür ging ein Dorf unter.

Graun wurde gesprengt und geflutet, seine Bewohnerinnen und Bewohner enteignet. Das ist jetzt 60 Jahre her. Seitdem leben die Menschen mit einem See vor der Haustüre, der für sie ein Fremdkörper ist. Das Porträt eines Dorfes, das seine kuriose Biografie nicht verkraftet.

Wenn Theresia Theiner die Geschichte von Sultan erzählt, werden ihre Augen auch mehr als ein halbes Jahrhundert später noch glasig. Sultan, ein Bernhardiner, war der Familienhund damals im alten Dorf. Wie so mancher Hund hatte auch Sultan einen Lieblingsplatz, von wo aus er in sicherem Abstand das Treiben der Menschen verfolgen konnte. Es war der Boden unter dem Küchentisch im Gasthaus Traube Post. Theresia Theiners Eltern führten das Hotel, es stand im Zentrum des kleines Dorfes Graun im Vinschgau. Und genau wie die anderen Häuser des Ortes wurde es 1950 gesprengt. Theresia, ihre drei Schwestern und die Eltern waren da schon umgesiedelt worden. Nur Sultan verstand nicht, warum der Küchentisch plötzlich weg war. „Er stand auf den Ruinen von unserem Haus und suchte den Tisch“, erzählt Theresia Theiner, „als dann alles geflutet war, ist er immer rausgeschwommen, und wir mussten ihn mit dem Boot zurückholen.“

In seinem neuen Zuhause fand der Hund keinen Platz, der ähnlich gut gewesen wäre wie der unter dem Küchentisch. Er weigerte sich, die Treppe zum neuen Haus hinaufzulaufen. Niemand in Graun, ob Tier oder Mensch, kam mit den Verlusten zurecht. „Manche von den ganz Alten“, sagt Theresia Theiner, „sind am Kummer gestorben.“

Die Weinfässer im Wasser

Theresia Theiner war 18 Jahre alt, als Graun versank, doch die Einzelheiten dieser Tage haben sich ihr eingeprägt wie Kriegserinnerungen. Wie auf einmal das Wasser im Keller stand und sie Bretter auslegen mussten, um noch an die Weinfässer ranzukommen. Oder wie ihre Familie innerhalb einer Woche alles Wertvolle auf einen Lastwagen packen musste, um es zu retten.  Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herrschten an einem kleinen Fleck mitten in Europa plötzlich wieder kriegsähnliche Zustände. Nahe dem Dreiländereck zwischen der Schweiz, Österreich und Italien wurden Menschen enteignet und vertrieben, ihr Zuhause zerstört. Alle 1.200 Bewohnerinnen und Bewohner aus Graun im Oberen Vinschgau verloren ihre Heimat. Die italienische Regierung wollte auf der Hochebene, auf der das Dorf lag, einen Stausee haben, der Norditalien mit Strom versorgt. Die Naturseen von Graun und Reschen wurden zu einem großen See aufgestaut. Felder, Wege, Bauernhöfe – alles weggespült. Nur der romanische Kirchturm von Altgraun blieb. Heute steht er im türkisfarbenen Wasser des Reschensees und ist vielleicht das ironischste Bauwerk Südtirols, komisch und tragisch zugleich.

 

Im See stehen die Häuser unter Strom

Die meisten Bürgerinnen und Bürger von Graun mussten auswandern. Ein paar Familien konnten sich wenige hundert Meter entfernt am Rand des Tals an einem steilen Hang eine neue Existenz aufbauen. Doch die Geschichte von Graun ist nicht nur das Drama eines ertrunkenen Dorfes. Die Biografie des Ortes steht für mehr. In ihr spiegelt sich auch das Wesen Südtirols wider. Das ganze Land ist geprägt von Kontrasten. Palmen und Gletscher, italienisch und deutsch, alt und neu. Doch nirgends sind die Gegensätze – der Modernitätsgedanke und das ländliche Idyll – so sehr aufeinandergeprallt wie in Graun am Reschenpass.

Das ironischste Bauwerk Südtirols

Heute, mit 78 Jahren, sitzt Theresia Theiner in der Bauernstube im Gasthaus Traube Post. Es ist das Hotel, das ihre Eltern nach der Stauung im neuen Dorf errichteten und in dem sie selbst bis vor kurzem als Chefin das Sagen hatte. Zu ihrem blauen Pullover trägt Theresa Theiner eine blaue Kette und passende Ohrringe. Sie weiß genau, wie wichtig das Auftreten im Gastgewerbe ist. Die Geschäfte laufen gut. Wanderinnen, Wanderer und Motorradcliquen kommen hier her, bald sind auch wieder die Landfrauen aus Heidelberg zu Gast. Der Kirchturm von Altgraun blieb. Heute steht er im türkisfarbenen Wasser des Reschensees und ist vielleicht das ironischste Bauwerk Südtirols, komisch und tragisch zugleich.

Was blieb, ist ein Dorf in Schwarz-Weiß

Schon Theresia Theiners Urgroßvater besaß die Gaststätte, mittlerweile hat ihr Sohn sie übernommen. Die Geschichte der Hoteliers in ihrem Familienstammbaum beendete auch der Stausee nicht. Dennoch hat die Flutung ihre Einstellung zu ihrem Land geprägt. „Wir fühlten uns noch österreichisch, die Italiener haben uns verjagt. Es hat sich viel Hass gegen sie gerichtet.“ Dann nimmt sie eine beigefarbene Speisekarte in die Hand. Die Gerichte, italienische Spezialitäten und Südtiroler Weine, sind hinterlegt mit einem schwarzweißen Foto des alten Hotels – aus der Zeit vor 1950.

60 Jahre nach der Stauung, im Oktober 2010, haben sich die Grauner wieder an den Untergang ihres Dorfes erinnert. Es gab einen Gedenkabend und eine Ausstellung im Heimatmuseum. 

Die Geschichte soll weitererzählt werden

Den Älteren ist es wichtig, ihre Geschichte an die Jungen weiterzugeben. Schließlich leben nur noch rund 20 Zeitzeugen, die sich an die Stauung erinnern. Doch die Umsiedlung ist lange her, und die Jugend will sich die Schicksalsschläge nicht vererben lassen. Wer jung ist, zieht lieber weg aus Graun. Es ist ein Ort mit einer kaputten Vergangenheit und wenig Perspektiven.

Mit dem Wind…

Das Leben im oberen Vinschgau ist rau. Wie der Wind, der ständig über den Pass fegt und die Bäume schief und krumm geblasen hat. Heute hat Graun nur noch 400 Einwohner, jeder kennt jeden, und manche sagen, dass man hier durch Mauern durchsehen könne. Die meisten Dorfbewohner haben einen Hof mit Vieh und etwas Land – doch das reicht zum Leben längst nicht mehr. Manche arbeiten zusätzlich in der Schweiz, wo es mehr Lohn gibt. Oder im Winter am Skilift in der Nähe.

Immerhin haben die Grauner begonnen, ihre einzigartige Dorfgeschichte vorsichtig zu vermarkten. Der Reschenpass ist eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen über die Alpen. Auf ihrem Weg in den Urlaub drücken sich die Touristenfamilien ungläubig die Nasen an ihren Autofenstern platt, wenn sie den Kirchturm mitten im See stehen sehen. Früher gab es deswegen Staus auf der Passstraße. Vor vier Jahren hat das Land 75 Parkplätze am Seeufer gebaut. Auch ein Miniaturmodell steht jetzt dort, in dem das Graun von vor 1950 nachgestellt ist. Die Überschrift der Infotafel: „Die Tragödie des Reschensees“. 

Ein paar Meter weiter tauschen zwei Pärchen gerade ihre Digitalkameras aus. Man hilft sich gegenseitig. Alle wollen ein Foto von sich. Mit dem fehlplatzierten Turm im Hintergrund. Ein Gag zum Urlaubsstart.

...und gegen den Strom

Die wenigsten wissen aber, wie es dazu kam. Fast einhundert Jahre alt ist die Idee, die Naturseen im oberen Vinschgau zu einem großen See zu stauen. Als in den 1920er- und 1930er-Jahren die Industrialisierung in Südtirol ankam, wurde auch dort der Energiehunger immer größer. Die faschistische Regierung Italiens, an das Südtirol seit 1919 angeschlossen ist, setzte besonders auf die Wasserkraft. Nationale Interessen gingen über alles und jeden.

Ein verheerender Beschluss

Die Grauner ahnten ihren Untergang, gingen damals aber davon aus, dass sich der Wasserspiegel nur um fünf Meter erhöhen werde. Teile des Dorfes hätten so stehen bleiben können.

1940 nagelte das Bozener Staatsbauamt ein Informationsblatt an die Gemeindetafel. Darauf stand eine neue Stauhöhe: 22 Meter. Niemand erhob Einspruch. Doch nicht aus Desinteresse, sondern weil alles in italienischer Sprache geschrieben war – was in Graun noch niemand verstand. Das Bauamt bekam seinen Wisch zurück und ein Unternehmen aus Mailand, die Montecatini AG, den Bauzuschlag aus Rom. Die Vorarbeiten begannen.

Bis der Pfarrer zum Papst reiste…

Als die Bauern realisierten, dass sie bald alles verlieren, formierten sie sich zum Protest. Mit Reisigrouten schlugen sie auf die Autos der Ingenieure ein, die am Damm bauten. „Erst als die Carabinieri mit ihren Maschinenpistolen kamen, gaben wir auf“, sagt Alois Prieth, der damals ein 14-jähriger Bursche war. Dorfpfarrer Alfred Rieper reiste zu Papst Pius nach Rom und flehte ihn an, er möge die Stauung verhindern. Auch das half nichts. 1949 schlossen sich die Schleusen.

Die Häuser, die am nächsten zum steigenden Wasser standen, wurden einzeln von der Firma Montecatini gesprengt. Nach und nach verschwand der Ort. Die Grauner sahen dabei zu, von einem nahegelegenen Barackendorf aus, indem sie untergebracht wurden. Die Abfindungen reichten den meisten Familien nicht, um sich eine gleichwertige Existenz aufzubauen. „Wir wurden nichts als betrogen“, sagt Alois Prieth. Jeder Blick auf das Wasser löst heute Wut und Pein aus. Für die Menschen in Neugraun blieb der Reschensee in den vergangenen 60 Jahren ein Fremdkörper direkt vor ihrer Haustüre.

Für die Menschen ist es der fremde See vor der Haustür

Doch wie geht es weiter mit Graun? Wir stellen diese Frage den ehemaligen Bürgermeister Heinrich Noggler. Beim Spaziergang am Seeufer gestikuliert Noggler mit der einen Hand wild in der Luft, mit der anderen umklammert er sein Handy. „Der See ist eine Tatsache, er geht nicht mehr weg“, sagt er. „Wir müssen das Beste daraus machen.“ Noggler wünscht sich mehr Tourismus am See und gleichzeitig die Grauner mit dem Wasser befrieden. Keine leichte Aufgabe.

Im Winter ist der Reschensee zugefroren. Und im Sommer ist er mit seinem 14 Grad kalten Wasser nicht gerade ein Badeparadies. Immerhin kommen seit einigen Jahren die besten Kitesurfer Europas. Der Wind ist perfekt für den Sport. Es gibt auch schon eine kleine Kiteschule am Ufer. „Mein Traum wäre ein Segelclub“, sagt Heinrich Noggler. Doch bisher gibt es nur einen Einheimischen, der ein Segelboot auf dem See hat. Es ist der Architekt aus dem Dorf. Kein echter Grauner, sondern ein Zugezogener.

Das Grauner Schmerzensgeld wird in Strom gezahlt

Stolz fährt der Heinrich Noggler (Bürgermeister bis 2020) mit der flachen Hand horizontal durch die Luft. „Dort drüben in der Bucht haben wir dieses Jahr Boden aufgeschüttet und den See damit verkleinert“, sagt er. Noggler will sich sukzessive das Land zurückholen. Das Ringen um Wiedergutmachung scheint auch erfolgreich zu sein. Vor zehn Jahren hat sich die Gemeinde eine Beteiligung am jährlichen Stromgewinn der Kraftwerksbetreiber erstritten. Bürgermeister Noggler nennt das „eine Art Schmerzensgeld“.

Akzeptieren ist schwierig

Theresia Theiner, die ehemalige Hotelchefin, ist weniger kämpferisch. Über die Jahre konnte sie den Reschensee anerkennen. „Heute ist er ja ganz schön, wie er so daliegt“, sagt sie und wiegt den Kopf hin und her. Meint sie es wirklich so? Ob man vielleicht ein Foto von ihr unten am See machen könne? Theresia Theiner überlegt, dann nickt sie. Auf dem Hinweg erzählt sie wieder vom Bernhardiner Sultan. Es hat kein gutes Ende für ihn gegeben. Sultan wurde krank, irgendwann mussten sie ihn erschießen lassen.

Dann das Foto am Reschenseeufer. Auf dem Rückweg macht Theresia Theiner eher beiläufig eine Bemerkung. Sie sei in den vergangenen 60 Jahren noch nie so nah am Wasser gewesen wie gerade eben, sagt sie. Das Ufer ist keine 300 Schritte von ihrer Haustüre entfernt.

Text: Lukas Eberle
Fotos: Jakob Hoff
Jahr der Veröffentlichung: 2014

(gekürzte Fassung einer Reportage, die anlässlich des Südtirol Medienpreises 2010 entstand)

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